Am 21. April 2021 entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in München in einem Verfahren eines Notfallsanitäters gegen den Zweckverband für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung Landshut.

In diesem wegweisenden Beschluss hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof entschieden, dass es "im Rahmen eines akuten "Notfall"-Einsatzes im Lichte des Patientenwohls vollkommen irrelevant sei, ob eine medizinisch indizierte Maßnahme von einem Arzt oder einem ausgebildeten Notfallsanitäter lege artis ins Werk gesetzt wird. Maßgeblich ist allein, dass sie stattfindet(!)."

Sanitäter Verwaltungsgerichtshof Entscheidung
Notfallsanitäterinnen und -sanitäter sind eigenverantwortlich handelnder, heilkundlicher Teil der Rettungskette [Photo by camilo jimenez on Unsplash]

In seiner Begründung führte der 12. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs weiter aus: "Die (klarstellende) Entscheidung des Gesetzgebers [red. Einführung von § 2a NotSanG] ist eindeutig: Notfallsanitäterinnen und -sanitäter sind, sofern (not-)ärztliche Hilfe nicht zeitnah zu erlangen ist und die Voraussetzungen des § 2a Nr. 2 NotSanG vorliegen, eigenverantwortlich handelnder, heilkundlicher Teil der Rettungskette."

Die Leitsätze der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichts vom 21. April 2021 lauten wie folgt:

Hauptpunkte

Analoge Anwendung von § 138 Nr. 1 VwGO im Eilverfahren;
Prüfungsanforderungen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes;
Eigenverantwortliche Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten durch Notfallsanitäter

Leitsätze

  1. § 138 Nr. 1 VwGO gilt für das Eilverfahren entsprechend. Eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts im Sinne dieser Vorschrift liegt stets dann vor, wenn objektiv gegen eine klare und in jeder Hinsicht eindeutige Regelung der Geschäftsverteilung verstoßen wurde.
  2. Soweit Normen und Vorschriften der Geschäftsverteilung unmittelbar die Besetzung des Gerichts regeln, hat das Beschwerdegericht ihre Einhaltung uneingeschränkt zu überprüfen. Für den Verfassungsprozess notwendige Einschränkungen können auf die (entsprechende) Anwendung des § 138 Nr. 1 VwGO nicht übertragen werden.
  3. Die perpetuatio fori - Regel des § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG kann im Rahmen des § 138 Nr. 1 VwGO nicht zum Tragen kommen; auf die gerichtsinterne Zuständigkeit zwischen den Kammern des gleichen Gerichts finden die § 83 VwGO, §§ 17 ff. GVG keine Anwendung.>
  4. Eine fehlerhafte Besetzung der Vorinstanz ist stets von Amts wegen zu berücksichtigen, sofern entsprechende Anhaltspunkte hierfür vorliegen. Auch § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO, wonach das Beschwerdegericht nur die „dargelegten Gründe" prüft, steht der Berücksichtigung einer fehlerhaften Besetzung im Lichte der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht entgegen. Die Vorschrift lässt die Befugnis des Beschwerdegerichts zur umfassenden Interessenabwägung und vollständigen Prüfung entscheidungserheblicher Tatsachen und Rechtsfragen unberührt.
  5. Das Institut des einstweiligen Rechtsschutzes (Art. 80 Abs. 5 VwGO) bezweckt nicht, das Hauptsacheverfahren im Eilverfahren vorwegzunehmen und bereits jetzt endgültige Verhältnisse zu schaffen, in denen der Rechtsschutz in der Hauptsache denknotwendig zu spät und zu kurz kommen muss; es beabsichtigt lediglich, unter Abwägung der beiderseitigen Interessenlage eine vorläufige Entscheidung bis zum Ergehen eines rechtskräftigen Urteils im Hauptsacheverfahren zu treffen.
  6. Es verbietet sich deshalb, schwierige und/oder umstrittene, in der Sache offene Tatsachen- oder Rechtsfragen unter Vermeidung einer mündlichen Hauptverhandlung bereits im Eilverfahren „abschließend" zu entscheiden und den Verfahrensbeteiligten so die Erlangung einer endgültigen, ergebnisoffenen Entscheidung im Hauptsacheverfahren faktisch unmöglich zu machen, sofern nicht ausnahmsweise ein überwiegendes öffentliches Vollzugsinteresse für die Anordnung des Sofortvollzugs streitet.
  7. Auf das Vorliegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses kann selbst bei offensichtlicher Erfolglosigkeit eines Rechtsbehelfs in der Hauptsache nicht verzichtet werden; denn die behördliche Vollzugsanordnung stellt lediglich eine Ausnähme vom Regelfall des § 80 Abs. 1 VwGO dar. Das Interesse an der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts ist stets ein qualitativ anderes als das Interesse am Erlass des Verwaltungsakts selbst. § 80 VwGO lässt die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsakts deshalb nur dann zu, wenn überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen einstweilen zurücktreten zu lassen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls in die Wege zu leiten.
  8. § 2a NotSanG erlaubt Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern entsprechend der bereits bisher praeter legem geltenden Rechtslage nunmehr auch ausdrücklich die situationsabhängige Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten und enthält insoweit eine Ausnahme vom Heilpraktikergesetz, das anderen Personen als Arztinnen und Ärzten oder Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern die Ausübung der Heilkunde untersagt.
  9. Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter übernehmen ab dem Zeitpunkt, in dem sie eigenverantwortlich entscheiden eine erlaubte heilkundliche Tätigkeit; sie tragen (auch haftungsrechtlich) die alleinige Verantwortung für die von ihnen ausgeübte Tätigkeit als solche und zugleich auch dafür, dass die vorgenommene Maß-nähme zum Zeitpunkt ihrer Durchführung die einzig mögliche und angemessene Option ist.
  10. Dabei ist die Ausübung der Heilkunde auf Situationen beschränkt, in welchen akut keine ärztliche Versorgung möglich ist, das Leben von Patientinnen und Patienten aber gleichwohl geschützt oder schwere Folgeschäden vermieden werden müssen. Liegen diese Voraussetzungen vor, so sind Notfallsanitäterinnen und -sanitäter nicht nur zum Handeln berechtigt, sondern ausdrücklich verpflichtet; sie müssen ihrer Ausbildung entsprechend lebenserhaltende Maßnahmen oder Maßnahmen zur Abwendung schwerer gesundheitlicher Schäden in all diesen Fällen eigenverantwortlich ins Werk setzen. Dabei sind Notfallsanitäterinnen und -sanitäter gehalten, die jeweilige Einsatzsituation sorgfältig zu prüfen und zu bewerten.
  11. Der Verpflichtung zum eigenverantwortlichen Handeln korrespondiert eine retrospektiv nur eingeschränkt überprüfbare Einschätzungsprärogative. Zeigt sich etwa im Nachhinein, dass ein lebensbedrohlicher Zustand nicht vorgelegen hat oder keine wesentlichen Folgeschäden zu erwarten waren, so ist das Tätigwerden zwar objektiv als unzulässig zu bewerten, eine subjektiv vorwerfbare Ausübung der Heilkunde kann aber nur dann angenommen werden, wenn bereits im Rahmen einer ex-ante Betrachtung keine Lebensgefahr gedroht hat oder keine wesentlichen Folgeschäden zu erwarten waren und dies für die handelnde Notfallsanitäterin oder den handelnden Notfallsanitäter unter Berücksichtigung der im Einsatzgeschehen bestehenden Anspannung auch ohne Weiteres erkennbar war. Für die Beurteilung kommt es maßgeblich auf die Sicht der vor Ort anwesenden Notfallsanitäterin oder -sanitäters im Augenblick des Handelns an.
  12. Notfallsanitäterinnen und -sanitäter sind, sofern (not-)ärztliche Hilfe nicht zeitnah zu erlangen ist und die Voraussetzungen des § 2a Nr. 2 NotSanG vorliegen, eigentverantwortlich handelnder, heilkundlicher Teil der Rettungskette.

Ihr Ansprechpartner